Ich, ich, ich; Generation me oder Zeitalter des Narzissmus – so finden wir, von Volksmund bis Forscher, dafür Ausdrücke, was die individualistische Ausrichtung vermeintlich aus einer Gesellschaft macht. Ist eine individualistische Gesellschaft ein Zusammenschluss aus selbstverliebten und egoistischen Menschen? Das Zukunftsinstitut prognostiziert das Gegenteil.
Individualismus? Da geht’s auch um Deutschland, das seine Wurzeln tief in der Vorstellung geschlagen hat, dass das Individuum im Mittelpunkt steht. Dazu zählt, dass wir die Selbstverantwortung des Einzelnen, die freie individuelle Wahl und die Selbstverwirklichung enorm wichtig finden, während in anderen Kulturen beispielsweise die Selbstaufopferung oder der Vorrang gemeinschaftlicher gegenüber individueller Bedürfnisse als wertvolle Tugenden gelten. Ein Eiertanz: Mit der einen Hälfte des Herzens loben wir die Freiheit des Einzelnen und schelten mit der anderen den Egoismus unserer Gesellschaft, die immerzu ums Ich rotiert.
„Nie war der Einzelne freier als heute“
„Die gute Nachricht lautet:“, schreibt Christian Schüle bei Zeit Online, „Wir müssen an keinen Gott glauben, wir brauchen nicht zu heiraten, wir dürfen unsere Körper tätowieren. Wir können mit Ringen in der Nase Arzt werden, hetero-, homo-, bi-, pan-, poly- oder sonst-wie-sexuell sein und ohne Aufsehen zu erregen die Kanzlerin beschimpfen. Uneheliche Kinder sind gang und gäbe und Homo-Ehen hoffähig. Wir finden für alles einen Coach und können in zahllosen Optionen unser Leben selbst bestimmen. Nie war der Einzelne freier als heute.“ Dass nach der guten Nachricht, die schlechte nicht warten lässt, das ahnen wir bereits.
Die Beispiele, die der Autor uns nennt, machen deutlich, welche Tabus wir aufgebrochen, welche Freiheit wir haben, unser Leben zu gestalten – implizit steckt darin auch: Dass diese Freiheit, der Individualismus, nicht ahistorisch ist, sondern Resultat einer Entwicklung.
Individualismus als treibende Kraft zum Kampf der Befreiung
„In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wurde der Individualismus zur treibenden Kraft im Kampf für die Befreiung des Menschen von politischen, religiösen und kulturellen Einschränkungen und Zwängen des feudal-absolutistischen Systems,“ schreibt das Onlinemagazin cuncti.net. „Erst durch die Loslösung von diesen Einschränkungen und Zwängen ist es dem Individuum möglich geworden, sein Leben selbst zu gestalten. Es entstand das Bewusstsein der Selbstbestimmung (Autonomie), der Unabhängigkeit und der individuellen Freiheit. Der Individualismus ist zur wichtigsten Quelle von Eigenverantwortung und Eigeninitiative geworden.“
„Sei wer du bist!, ruft uns die Welt entgegen“
Dennoch: „In den fünfziger und sechziger Jahren waren die Ansprüche der Gesellschaft an den Einzelnen so homogen wie der Druck, diese Ansprüche einzuhalten“, schreibt Zeit Online-Autor Schüle: „Man fügte sich den Normen, ging selbstverständlich in die Kirche, Nischen waren kaum zu finden. Mut zum eigenen Typ bewiesen schon diejenigen, die abends nicht die Tagesschau guckten.“
Eine neue Form des Individualismus entstand im Zuge der 68er-Bewegung, den cuncti.net als „Selbstverwirklichungsindividualismus“ bezeichnet. Mit diesem hat einer neuer Geist Einzug gefunden. „Sei, wer du bist!, ruft uns die Welt entgegen. Entfalte dich! Verwirkliche dich! Mach was aus dir!“, schreibt auch Schüle bei Zeit Online: „Das ist der Imperativ des zeitgemäßen Individualismus.“ Was früher Mut war, ist heute Muss. Der erste bittere Beigeschmack macht auf sich aufmerksam.
„Die jugendliche Lebensphase hat sich zum Ideal entwickelt“
Ein solcher Umbruch zieht weitreichende Folgen mit sich: Die „Normbiografie“ mit ihrem streng linearen Ablauf von Jugend, dann Erwerbs-/Familienphase gefolgt, dann Ruhestand verliere zunehmend an Gültigkeit, schreibt das Zukunftsinstitut. Dabei heraus kommen neue Lebensphasen wie zum Beispiel die Post-Adoleszenz. So heißt’s in einem anderen Text des Instituts:
„Die jugendliche Lebensphase hat sich zu einer universalen Idealfigur für die gesamte Gesellschaft entwickelt. Jugendliche Lebensstile gelten heute als Maßstab für ein gutes, attraktives Erwachsenenleben. Eine paradoxe Entwicklung zeichnet sich ab: Während die Gesellschaft kontinuierlich altert, werden ihre kulturellen und körperlichen Leitbilder immer jugendlicher.“
Lebensverändernde Entscheidungen wie Kinderkriegen werden nach hinten verlegt
Damit zeichnet sich ein weiterer Trend ab: Entscheidungen, die das Leben verändern, wie das Kinderkriegen werden immer weiter nach hinten verlegt, um die Optionenvielfalt zu erhalten. Mit der Individualisierung geht der Widerwille einher, sich festzulegen als auch Begleiterscheinungen wie den Bedeutungsverlust der Ehe, eine hohe Scheidungsrate und eine wachsende Zahl an Single-Haushalten.
Die schlechte Nachricht: Vereinzelung, Vereinsamung, Isolation
Gekoppelt an das Streben nach Selbstverwirklichung seien noch andere zentrale Merkmale des neuen Individualismus, so cuncti.net: „Permanente Beschäftigung mit sich selbst (Sebstbespiegelung), Ich-Bezogenheit (Egozentrik), andauernde Suche nach der eigenen Identität, Narzissmus, Bedürfnis nach Originalität, Neigung zur Selbstdarstellung, Ablehnung der „Masse“, Ablehnung von Autoritäten und hierarchischen Strukturen“. Die Folgen? Hier kommt die schlechte Nachricht: Vereinzelung, Vereinsamung, Isolation und die Abwendung von den Anderen, von sozialen Pflichten und sozialer Verantwortung.
Das Wir als peergroup-orientierte Strategie
Doch wer hat gesagt, dass nach einer schlechten nicht auch nochmal eine gute Nachricht folgen kann? So wie der Individualismus seit seiner Entstehung im Wandel begriffen war, so ist er’s stets. Das Zukunftsinstitut erforscht Trends wie solch einen. Seine Prognose: Ein neuer Individualismus bahnt sich seinen Weg, der „Integrierte Individualismus“. Und der, so das Institut, sieht so aus: „In Zukunft ist Individualität nicht egoistisch, sondern immer mehr achtsam. Der Megatrend geht in die Rekursion, macht also eine Schleife – Individualisten suchen Gemeinschaft und schaffen sich neu. Das entwickelte Ich und das neue Wir sind in Zukunft zwei Seiten derselben Medaille.“
Demnach handelt es sich beim integrierten Individualismus um eine peergroup-orientierte Strategie der Einzelnen. Je individualistischer das Lebenskonzept ist, desto stärker ist man auf die Unterstützung von Menschen angewiesen, die nicht zur Familie gehören, desto mehr wächst die Bedeutung von selbstgewählter Gruppenzugehörigkeit für die eigene Identität und Lebensweise.
„Zur Selbstverwirklichung gehört immer der Andere“
Matthias Horx schreibt in seinem Text für das Zukunftsinstitut „Die empathische(re) Gesellschaft„: „Nach der Regel Trend-Gegentrend-Synthese entsteht heute eine soziale Struktur von Re-Konnektivität (…) Man denke an die unzähligen Initiativen des Urban Gardening in jeder großen Stadt, wo sich Menschen über den „Grünen Daumen“ die Hand geben. Man denke an das Co-Working und Co-Housing – die neuen Baugenossenschaften, die heute autonome Siedlungsprojekte zu bauen beginnen, in denen das Ökologische mit dem Sozialen rekombiniert wird.“ Und er beruft sich vor allem auf das Engagement der Deutschen zu der heutigen Zeit der hohen an Zahl an Menschen, die zu uns flohen. Die kollektive Flüchtlings-Sympathie sieht er als Symptom eines tiefgreifenden Wandels – hin zu einer Wir-Kultur. Einen „empathischen Individualismus“ nennt er den neuen Trend. „Gerade eigenständige Menschen sind soziale Wesen, und zur Selbstverwirklichung gehört immer der Andere.“
Auch in unserem Blog: Die individualisierte deutsche Gesellschaft braucht Halt: Freunde werden immer wichtiger, nehmen sie mit einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein häufig schon den Part der „selbstgewählten Familie“ ein. Auch interessant: Die deutsche Gesellschaft ist bunt und modern. Alternative Lebensentwürfe und unterschiedliche sexuelle Orientierungen haben Konjunktur: Ein Überblick über Lebensformen in Deutschland. Lesen Sie auch: Rational, akkurat und diszipliniert. Das gilt als typisch deutsch. Klingt ein wenig unbeweglich. Sind Deutsche wirklich so konservativ? Eine Studie zeichnet ein anderes Bild.