Internationaler Tag der Freundschaft: Freunde als Wahlfamilie

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Partnerschaften wechseln, Jobs wechseln, die klassische Familie ist nicht mehr selbstverständlich und durch die demografische Entwicklung gibt es immer mehr alte Menschen, und die sind häufig einsam. Die individualisierte deutsche Gesellschaft braucht Halt: Das soziale Potenzial von Freundschaften wird längst von Forschern untersucht. Es erstaunt nicht: Freunde werden immer wichtiger in der deutschen Gesellschaft, nehmen sie mit einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein häufig schon den Part der „selbstgewählten Familie“ ein.

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In der Freundschaft suchen Deutsche Trost und Unterstützung Foto: Mystock88photo

Viele Singlehaushalte, Alleinerziehende, Kinderlose, ein Querschnitt der Gesellschaft legt eine individualisierte und pluralisierte Gesellschaft offen. Während der Schwund der traditionellen Familie „Vater, Mutter, Kind“ neuen Lebensentwürfen Raum macht, nisten sich Freundschaften als ein wertvolles Gut in der von Wandel und Instabilität gezeichneten Lebenswelt ein.

Freundschaft hängt Liebe ab

Eine Umfrage von Statista darüber, was jungen Menschen in Deutschland wichtig ist, ergab als die häufigste Nennung „Gute Freunde haben“. Mit 69 Prozent lag sie vor „Gesundheit“und auch „Familie“ (60 Prozent) oder „eine glückliche Partnerschaft (56 Prozent)“.
Auch eine Studie der Stiftung für Zukunftsfragen, von der die Welt berichtet, hat ermittelt: Für 92 Prozent der Befragten seien enge Freunde unerlässlich – das gaben zehn Prozent mehr an als vor zehn Jahren. Laut der Welt passten die Ergebnisse zur Bevölkerungsstatistik:

Im Jahr 2011 lebten in Deutschland 15,9 Millionen Menschen allein – das ist ein Fünftel der Bevölkerung. Seit 1991 hat sich die Zahl um 40 Prozent gesteigert. Das durchschnittliche Heiratsalter hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren um mehr als vier Jahre erhöht. Die Zahlen legen den Schluss nahe, dass Freunde immer öfter den Part übernehmen, der einst Ehegatten und Verwandten zukam.

Wenn die Liebe zu oft scheitert…

Auch Zeit Online bezieht sich auf die Stiftung für Zukunftsfragen, wenn es schreibt, dass die Grenze zwischen Familie und Freundschaft verschwimmt: 74 Prozent der Deutschen betrachten ihre Freunde als eine Art zweite Familie. Um die wachsende Bedeutung für Freunde zu erklären, zitiert die Zeitung den Soziologen Janosch Schobin vom Hamburger Institut für Sozialforschung heran. Würden üblicherweise zur Zeit der Familiengründung Freunde in den Hintergrund treten, gebe es mittlerweile einen Sperrklinkeneffekt: „Vielen Leuten gelingt der Übergang in die Familiengründungsphase nicht mehr.“ Sie kämen aus der Phase davor nicht heraus, erst sei da die lange Ausbildungszeit, dann die Jobsuche, es folgt der Karrierebeginn, und häufig zerbreche so um die 30 die Partnerschaft.

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Wird Freundschaft wichtiger, wenn die Liebe mehrfach scheitert? Foto: Monkey Business Images Ltd

„Manche kriegen es dann nicht mehr hin, noch einen Partner zu finden und eine Familie zu gründen.“ Und wer mehrfach das Scheitern einer Beziehung erlebt habe, wolle sich womöglich auch gar nicht mehr auf den einen Menschen im Leben verlassen. „Dann richten sich diese Leute auf ihre Freunde ein und pflegen diese Beziehungen umso intensiver.“

… und die Freundschaft hält fürs Leben

Ganz nach dem Motto „Liebe vergeht, Freundschaft besteht“ scheint das Vertrauen in Freundschaften stark, wo der Glaube an die lebenslange Liebesbeziehung brüchig wird. So ergab eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, dass zwei Drittel der Bevölkerung an die lebenslange Freundschaft glauben. Was diese ausmacht, was in ihr wichtig ist und was nicht, darüber herrschen demnach klare Vorstellungen:

Gegenseitige Hilfe, Ehrlichkeit und Offenheit, aber auch Trost, wenn nötig, sind für jeweils eine deutliche Mehrheit in einer Freundschaft ganz besonders wichtig. Vergleichsweise wenig Bedeutung wird dagegen bemerkenswerterweise häufigen Treffen und gemeinsamen Unternehmungen beigemessen. Und die Stimulation durch Freunde, dass man neue Ideen, neue Impulse bekommt, liegt in der Rangliste der 16 vorgelegten möglichen Charakterisierungen von Freundschaften auf dem letzten Platz.

Da wird der Berg buchstäblich flacher

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Menschen schätzen die Steigung eines Hügels geringer ein, wenn ein Freund neben ihnen steht Foto: Anatoliy Samara

Mit Freunden durch dick und dünn gehen, füreinander Verantwortung zeigen, gemeinsam Probleme bewältigen: Freunde sind ein Quell der Unterstützung. „In Gegenwart von Freunden erscheinen Probleme kleiner – und Berge buchstäblich flacher“, heißt es ferner im obig genannten Text von Zeit Online. Demnach schätzten Menschen in Experimenten sogar tatsächlich die Steigung eines Hügels geringer ein, wenn ein Freund neben ihnen steht. Der Effekt ist gar umso stärker, je länger die Freundschaft bereits anhält. Oft reicht sogar der Gedanke an ihn, damit der Berg schrumpft. „Wir verbuchen unsere Freunde als potenzielle Unterstützung“, wird die Psychologieprofessor Denissen zitiert: „Wer solche Ressourcen hat, stuft ein Problem als weniger bedrohlich ein.“

Wer gute Freunde hat, hat weniger Stress

Das entspricht auch den Ergebnissen Franz Neyers, Direktor des Instituts für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der seit über 20 Jahren den Zusammenhang von Freundschaft und Lebensqualität untersucht, berichtet Deutschlandradio Kultur. Die sozialen Potenziale seien enorm: Seine Untersuchungen zeigten, dass Menschen mit intakten Freundschaften weniger gestresst sind und ein größeres Selbstwertgefühl haben. Weiter heißt es hier:

‚Verwandte sind die Familie, in die du hineingeboren wirst. Freunde sind die Familie, die du dir aussuchst‘ – diese geflügelten Worte kommen laut Franz Neyer der Wirklichkeit sehr nahe. Seine Forschungsergebnisse sprechen sogar dafür, dass Freundschaften zerrüttete Familienbeziehungen ausgleichen können.

So kann Familie auch!

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Anstatt im Alter einsam zu sein, finden Ältere in Freunden eine Wahlfamilie Foto: Robert Kneschke

In Deutschland schlägt sich das in den Lebensrealitäten der Gesellschaft nieder: Wohngemeinschaften unter Freunden nehmen zu, nicht nur unter jungen Leuten und Studenten. Der Trend zeigt sich durch alle Bevölkerungsgruppen hindurch. Seien es Singles, die das Alleinleben satt haben, seien es Alleinerziehende, die so eine Unterstützungsstruktur und Gemeinschaft erfahren, seien es ältere Menschen, die sich nicht mehr so stark auf ihre Kinder und Enkel berufen können oder wollen. Menschen aller Generationen finden sich in Wohnprojekten zusammen und  finden dort Halt, wo der Wandel der Gesellschaft Lücken lässt. Wo einst Familie war, sind nun Freunde. Oder genauer: War Familie einst ein Konstrukt, das durch Blutsverwandtschaft oder Heiratsallianzen legitimiert wurde, ist Familie heute das, was auf Freundschaft, das heißt, auf selbst gewählter Loyalität und Verantwortung, basiert.

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