In einem Gutachten des Instituts zur Zukunft der Arbeit für die Friedrich-Naumann-Stiftung analysieren die Autoren Dr. Ulf Rinne und Holger Hinte die Defizite der deutschen Zuwanderungspolitik im Hinblick auf die Gewinnung von Fachkräften. Sie entwickeln einen konkreten Gestaltungsvorschlag für eine Reform der Erwerbszuwanderung im Rahmen eines aktiven Auswahlsystems. Bewerber mit besonders guten beruflichen oder akademischen Qualifikationen können unter bestimmten Voraussetzungen ein sofortiges Daueraufenthaltsrecht erhalten, andere über einen „Pool“ in späteren Bewerberrunden zum Zuge kommen, bis eine verbindliche Jahresquote ausgeschöpft ist. Das Konzept sieht ein punkteorientiertes Drei-Säulen-Modell vor, das dem Beispiel anderer Einwanderungsländer wie z.B. Kanada folgt. Dr. Ulf Rinne gab Employland ein Interview.
Employland: Herr Dr. Rinne, das neue Gutachten des IZA „Fachkräfte gewinnen: Konzept für eine aktive deutsche Zuwanderungspolitik“ wurde quasi zeitgleich mit den Ergebnissen der Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung veröffentlicht, aus der mit 1.099.000 offenen Stellen in Deutschland abermals ein neuer Höchstwert hervorgeht. Es schreit nahezu nach Fachkräften aus dem Ausland, wenn es darum geht, das Arbeitsangebot in Deutschland zu decken und damit die Sicherung der Wirtschaft zu gewährleisten. Wie kann es sein, dass wir noch kein Einwanderungsgesetz haben?
Dr. Ulf Rinne: In der Vergangenheit wurden leider auch sehr günstige Konstellationen mit klaren politischen Mehrheitsverhältnissen und komfortabler Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht genutzt, um ein Einwanderungsgesetz zu etablieren. Derzeit scheint bei oberflächlicher Betrachtung der Handlungsdruck nicht groß, denn dank EU-Binnenmigration und humanitärer Einreisen wird ein zuzugsbedingtes Rekordwachstum der Gesamtbevölkerung vermeldet. Das ist jedoch als statistische Momentaufnahme zu bewerten und wird nicht von Dauer sein. Die aktuellen Zahlen der Stellenerhebung zeigen hingegen: Wir müssen uns heute darauf vorbereiten, dass Fachkräfte knapper werden – und zwar weltweit. Deshalb sollten wir jetzt die Gunst der Stunde nutzen und uns mit einem auf ökonomische Belange und demografische Herausforderungen ausgerichteten Einwanderungsgesetz für die Zukunft wappnen.
Die Erwerbszuwanderung aus Drittstaaten stagniert mit knapp 40.000 Personen seit Jahren auf geringem Niveau. Darunter sind regelmäßig weniger als 30.000 Fachkräfte. Wir benötigen endlich einen echten Befreiungsschlag
Employland: Ein weiteres interessantes Ergebnis: 16 Prozent der offenen Stellen erfordern laut IAB-Stellenerhebung einen Fachhochschul- oder einen Hochschulabschluss. Hingegen werden bei 64 Prozent der offenen Stellen Fachkräfte gesucht, die einen Ausbildungsabschluss haben. Die Regelung bezüglich der Zuwanderung von Fachkräften mit Berufsausbildung, die in großer Dimension gebraucht werden, ist jedoch restriktiv: Nur für Menschen mit einem Beruf, der in Deutschland auf der Positivliste steht, also ein Mangelberuf ist, ist der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht worden. Wie gut ist das deutsche Zuwanderungssystem auf den Bedarf des Arbeitsmarktes zugeschnitten?
Dr. Ulf Rinne: In der Tat braucht Deutschland künftig nicht unbedingt mehr Zuwanderung, aber definitiv mehr qualifizierte Einwanderer – und zwar nicht nur Akademiker, sondern auch Fachkräfte mit Berufsausbildung. Derzeit wird der Versuch unternommen, diesem Bedarf auf dem Arbeitsmarkt mit der erwähnten Positivliste zu begegnen. Dass dieser Ansatz zu kurz greift, zeigt nicht zuletzt die geringe Resonanz. Die Erwerbszuwanderung aus Drittstaaten stagniert mit knapp 40.000 Personen seit Jahren auf geringem Niveau. Darunter sind regelmäßig weniger als 30.000 Fachkräfte. Wir benötigen endlich einen echten Befreiungsschlag. Humanitäre Zuwanderung und Familiennachzug sind bei uns gut ausgebaut und sollten es auch bleiben. Aber auf dem Gebiet der Erwerbszuwanderung ist ein großer Nachholbedarf zu konstatieren. Es sollten hier qualifizierte Fachkräfte mit akademischer und nicht-akademischer Ausbildung gleichermaßen in den Blick genommen, gezielt angesprochen und „umworben“ werden.
Es müssen dringend Möglichkeiten etabliert werden, dass gesuchte Fachkräfte auch ohne ein bereits vorliegendes Arbeitsplatzangebot ihren Weg nach Deutschland finden
Employland: Dass die Zahl der Erwerbszuwanderer so gering ist, könnte auch durch Hürden beim Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen aus Drittstaaten bedingt sein, nicht wahr? Momentan können entsprechende Fachkräfte nur dann einen Aufenthaltstitel für Deutschland beantragen, wenn sie bereits einen Arbeitsplatz gefunden haben (abgesehen vom Arbeitsplatzsuchevisum, das Akademikern einen Aufenthalt von bis zu sechs Monaten ermöglicht, um vor Ort einen zu suchen. Aus der Ferne aber einen Job in Deutschland zu finden, scheint mühsam bis unmöglich. Schießen wir uns mit dieser nicht ins eigene Bein? Schließlich sind wir auf internationale Fachkräfte angewiesen und stehen in hohem globalen Wettbewerb im „War for Talents“.
Dr. Ulf Rinne: Das Feld der sogenannten Potenzialzuwanderung ist tatsächlich unterentwickelt. Es müssen dringend Möglichkeiten etabliert werden, dass gesuchte Fachkräfte auch ohne ein bereits vorliegendes Arbeitsplatzangebot ihren Weg nach Deutschland finden. In diesem Zusammenhang sind Punktesysteme ein populäres und bewährtes Instrument, um aus den eingehenden Bewerbungen die geeignetsten Kandidatinnen und Kandidaten auszuwählen. Ein fehlendes Arbeitsplatzangebot muss dann kein Ausschlusskriterium mehr sein, sondern kann durch Qualifikationen oder andere Fähigkeiten, wie etwa Sprachkenntnisse, kompensiert werden.
Employland: Nicht nur stehen wir im Wettbewerb mit anderen „Global Players“, wir hinken sogar hinterher, könnte man das so sagen? Was machen andere Länder besser, welche Vorteile bieten sie und was sollten wir daraus lernen?
Unter dem Strich zeichnen sich diese Länder durch einen souveränen und recht unaufgeregten Umgang mit dem Thema Zuwanderung aus, der uns auch gut zu Gesicht stünde
Dr. Ulf Rinne: Erfolgreiche Länder auf dem Gebiet der Fachkräftezuwanderung nutzen die Vorteile eines aktiven Auswahlsystems. Sie senden klare Signale und machen von Anfang an sehr deutlich, wer gesucht wird und wie die Zuwanderungsbedingungen lauten. Mit diesem nüchternen Ansatz schaffen es Länder wie Australien und Kanada außerdem, die notwendige Berechenbarkeit und Akzeptanz in der inländischen Bevölkerung herzustellen. Unter dem Strich zeichnen sich diese Länder durch einen souveränen und recht unaufgeregten Umgang mit dem Thema Zuwanderung aus, der uns auch gut zu Gesicht stünde.
Employland: Ihr Konzept zur Gestaltung der Zuwanderung lehnt sich an das Punktesystem solcher Einwanderungsländer an. Wie sieht ein entsprechendes punkteorientiertes System für Deutschland Ihres Erachtens nach aus und was macht Ihr Drei-Säulen-Modell aus?
Dr. Ulf Rinne: Wir möchten mit unserem Konzept die Zuwanderungswege für Erwerbsmigranten vereinfachen und verschiedene Zielgruppe gesondert ansprechen. Wir unterscheiden deshalb in den ersten beiden Säulen unseres Modells zwischen akademischer und beruflicher Qualifikation. Interessenten dieser Zielgruppen bewerben sich online aus dem Ausland und erhalten Punkte für ihre individuellen Charakteristika wie Berufsabschluss, Berufserfahrung, deutsche oder englische Sprachkenntnisse und Lebensalter. Wer eine hohe Punktzahl erreicht, darf dann im Rahmen einer jährlichen Höchstquote unbefristet einreisen und arbeiten. Daneben möchten wir in der dritten Säule eine Möglichkeit für befristete Zuwanderung schaffen, über die Bewerber mit bereits vorliegendem Arbeitsplatzangebot einreisen können. Auf diese Weise vereinen wir in unserem Ansatz verschiedene Steuerungsansätze von Zuwanderung in einer ganzheitlichen Strategie.
Employland: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Interview mit uns genommen haben!
Das IZA plädiert bereits seit 2011 für ein Einwanderungsgesetz. Ulf Rinne gab Employland bereits im vergangenen Jahr ein Interview. Lesen Sie hier, was Ulf Rinne über das IZA-Konzept eines Einwanderungsgesetzes da bereits sagte.
Auch IZA-Pressesprecher Mark Fallak gab Employland ein Interview: Warum funktioniert die hochqualifizierte Zuwanderung nach Deutschland nicht wie erwünscht? Trotz Blue Card kaum Zuwanderung – Ein Experte sagt, warum.
Auch in unserem Blog: Verpasste Aufträge, Cyberattacken, Umsatzverluste, das sind die Folgen des deutschen Fachkräftemangels. Die Personalnot betrifft viele Branchen und alle Regionen Deutschlands. Zu Zeiten des anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs und der digitalen Transformation ist der Bedarf an Fachkräften besonders hoch und wächst weiterhin – deren Mangel kommt deutsche Betriebe teuer zu stehen.
Beitragsfoto: Institut zur Zukunft der Arbeit