Zum Auftakt unserer Serie erklärt die interkulturelle Trainerin Dr. Sylvia Schroll-Machl im Interview, warum der bewusste Umgang mit fremden und eigenen Kulturstandards wichtig für eine erfolgreiche internationale Zusammenarbeit ist.
Employland: Frau Schroll-Machl, Sie haben diverse Bücher zum Thema interkulturelle Zusammenarbeit geschrieben. Warum bedarf es eines besonderen Wissens, um interkulturell erfolgreich zu agieren?
Sylvia Schroll-Machl: Menschen aus unterschiedlichen Nationen, die miteinander arbeiten, sind in ihrer jeweils eigenen Kultur aufgewachsen. Normen, Werte und Verhaltensregeln, die ihr Denken und Handeln bestimmen, sind im Alltag zur Routine geworden, man nimmt sie nicht mehr bewusst wahr. Wir lernen, dass unser Verhalten im Allgemeinen von anderen akzeptiert wird und damit richtig ist. Wir gehen deshalb davon aus, dass alle Menschen „guten Willens“ sich so verhalten, wie wir es gelernt haben. Begegnet uns jemand, der sich nicht so verhält, wie wir es erwarten, interpretieren wir dies aus persönlicher Unkenntnis als Unfähigkeit oder sogar hinterhältiges Kalkül. Wer international erfolgreich agieren will, braucht deshalb das Wissen über die Logik, der der anderskulturelle Partner folgt.
„Die Probleme liegen in sichtbaren Kulturunterschieden“
Employland: Es geht also um Kulturunterschiede und um die Konflikte, die daraus in der Arbeitswelt entstehen können.
Sylvia Schroll-Machl: Wenn zwei Menschen unterschiedlicher Kulturen miteinander zu tun haben, dann verhält sich jeder zunächst einmal so wie ein Chinese, Brasilianer, Amerikaner, Russe oder eben ein Deutscher sich in einer bestimmten Situation üblicherweise verhält. Weil beide aber darauf angewiesen sind, durch Interaktion miteinander ihre Ziele zu erreichen, entstehen Probleme dort, wo die jeweils definierte Normalität voneinander abweicht. Sind die Handlungsweisen nicht kompatibel, erleben wir Fremdheit und Irritation. Die Gefahren lauern im Verborgenen: Alle Menschen sehen, hören, lieben, hassen, kämpfen; sie wollen arbeiten und es zu etwas bringen; sie wollen das Beste für ihre Familien. Die Ziele im Leben sind vermutlich dieselben, aber die Wege sind verschieden. Die Probleme liegen zunächst einmal in nicht sichtbaren Kulturunterschieden, das heißt Einstellungen, Werten und Haltungen, die Respekt verlangen und verdienen. Gelingt die gegenseitige Wertschätzung, gelingen die Beziehungen.
„Kulturstandards wirken als Maßstäbe, Bezugssysteme, Orientierungsmerkmale“
Employland: Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Kulturstandards und betonen, dass man sich auch der eigenen Kulturstandards bewusst sein sollte. Warum?
Sylvia Schroll-Machl: Kulturstandards wirken als Maßstäbe, Gradmesser, Bezugssysteme und Orientierungsmerkmale. Wir wissen zwar, dass Menschen anderer Kulturen sich zum Teil anders verhalten und sind bereit, gewisse Abweichungen zu tolerieren. Weicht das Verhalten des Partners aber zu stark ab, schlägt die Toleranz in Belehrung oder Zurechtweisung um.
Interkulturelle Erfahrungen führen aber nicht direkt zum Lern- und Erkenntnisprozess bezüglich der eigenkulturellen Merkmale. Ziel der Kulturstandards ist es, die Hintergründe zu erforschen, die hinter dem Verhalten stehen und es steuern. Wer in der deutschen Kultur aufgewachsen ist, lernt mithilfe der deutschen Kulturstandards, wie er aufgrund seines eigenen Verhaltens auf Menschen anderer Kulturen wirkt .
Employland: Können Sie ein Beispiel nennen?
Sylvia Schroll-Machl: In einem interkulturellen Seminar erkläre ich die deutschen Kulturstandards und alle hören interessiert zu. In der Pause spricht mich ein Algerier an: Nun verstehe er einiges besser. Vor allem, dass die Deutschen es gar nicht so meinten: In seiner Heimatstadt hatte man für ein großes U-Bahn-Bauprojekt einer renommierten deutschen Firma den Auftrag erteilt. Entgegen mancher Wette unter den Algeriern hielten die Deutschen ihre Pläne ein: Die Kosten blieben im angegebenen Rahmen, der Zeitplan wurde befolgt. Alles klappte. Ich schaue den Teilnehmer an und sage, dass die deutschen Projektmitarbeiter sicherlich zufrieden waren. Ja, meint der Algerier, das befürchte er auch, jetzt, da er meine Ausführungen gehört habe.
„Nie mehr werden die Algerier mit Deutschen arbeiten“
Dann schildert er mir die algerische Perspektive. Nie mehr werden die verantwortlichen Algerier mit Deutschen arbeiten. Niemals sei er als Ingenieur in den vier Jahren um Rat gefragt worden, wie die Kooperation mit den algerischen Arbeitern zu optimieren sei. Keine einzige Freundschaft zwischen Deutschen und Algeriern sei entstanden! Niemals sei der Projektleiter mit dem Bürgermeister Essen gegangen. So ließen sie sich nie mehr behandeln! Wie lässt sich die Differenz in der Wahrnehmung erklären? Für die Deutschen ging es ausschließlich darum, die vereinbarte Leistung zu erbringen. Sie haben die Beziehungsebene, die in vielen Kulturkreisen sehr wichtig ist, völlig vernachlässigt und die algerischen Kollegen so massiv beleidigt. Wir Deutsche belegen in interkulturellen Messungen einen Extremwert in den Kulturstandards Sachorientierung, Direktheit, Struktur- und Organisationsliebe.
Employland: Klingt einleuchtend, aber leistet eine solche Reduktion nicht Stereotypisierungen und Vorurteilen gerade Vorschub?
Sylvia Schroll-Machl: Charakteristika sind Generalisierungen, erheben also nicht den Anspruch, Individuen zu beschreiben. Für den Kulturvergleich bedeutet das: Die Individuen einer Kultur zeigen gehäuft Verhaltensweisen, die in der anderen Kultur in dieser Häufigkeit nicht beobachtet werden. Mit den Kulturstandards beschreibe ich somit Typisches. Wenn vor einem deutschen Publikum referiere, erlebe ich Reaktionen wie, „Ich muss Ihnen widersprechen. Ich bin ein Bayer/Kölner/Hamburger. Das stimmt für uns nicht ganz. Da muss man differenzieren.“ Oder: „Ja, das war mal so. Aber jetzt hat sich das verändert.“
„Keiner will typisch deutsch sein.“
Da sind wir bei einem meiner Erfahrung nach zutiefst deutschen Charakteristikum angelangt: Keiner will typisch deutsch sein, deutsch sind vor allem die anderen… Und natürlich haben sie auch zu einem guten Teil recht: Eine Aussage ist ein generalisiertes, empirisch gewonnenes Ergebnis, das für viele Fälle zutrifft, aber auch Abweichungen zulässt und genau genommen Tendenzen beschreibt. Denn Kultur ist keinesfalls die einzige Determinante. Auch eine Situation, eine Stimmung kann bei einer Begegnung wirksam sein. Und wir sind Individuen – jede Person ist anders. Und wir haben gewisse Handlungsfreiheit, einen gewissen Verhaltensspielraum. Dennoch sind die vereinfachten Aussagen auf einer generalisierten, kollektiven Ebene stimmig. Typisierungen sind immer ein wichtiges Instrument der Erkenntnis und der Orientierung, und das paradoxerweise umso mehr, je komplexer die Wirklichkeit ist, was für unsere multikulturelle Arbeitswelt nun tatsächlich zutrifft.
Employland: Kann man denn in einer globalisierten Welt Kultur überhaupt noch an der Nation ausmachen? Es heißt: Ein chinesischer Unternehmer hat mit einem deutschen Unternehmer wahrscheinlich mehr gemeinsam als mit einer chinesischen Frau vom Land.
Sylvia Schroll-Machl: Unsere Forschung hat gar nicht den Anspruch, eine (National)-Kultur an sich zu erfassen. Wir möchten vielmehr den in der internationalen Kooperation Tätigen Hilfestellung geben, das Fremdartige, das sie erleben, besser zu verstehen und daraufhin adäquater reagieren zu können. Das Kulturstandardkonzept, dem ich folge, ist dennoch nicht unumstritten. Demgegenüber kann ich nicht genug betonen, dass Verallgemeinerungen über „die Deutschen“ Aussagen über vorherrschende Tendenzen in einer nationalen Gruppe sind, aber keine Aussagen über die Einstellungen und Verhaltensweisen Einzelner. Die wirkliche Person begegnet nicht „dem Deutschen“, sondern einem ganz konkreten Individuum.
„Kulturstandards sind nur ein Vehikel in der internationalen Kooperation“
Die Komplexität der Realität ist mir voll bewusst und sie muss als Gegengewicht zur Beschreibung der Kulturstandards im Auge behalten werden. Kulturstandards sind nur ein Vehikel, das die kulturellen Faktoren benennt, die in der internationalen Kooperation wirksam sind. Die persönlich-individuellen und situativen Faktoren sind ebenso wirksam! Gleichzeitig! Da aber die Übung im Heranziehen individueller und situativen Erklärungen größer ist als in der Berücksichtigung der kulturellen Faktoren, ist es mir ein Anliegen, diese Ebene deutlich und klar herauszuarbeiten, um sie auch als Werkzeug zur Verfügung zu stellen
Lesen Sie auch den zweiten Teil unserer Serie: Dr. Sylvia Schroll-Machl über die die deutschen Kulturstandards: „Diese Tugenden sind trügerisch„.
Auch in unserem Blog: Wie hilfreich interkulturelle Kompetenzen sind, das berichtet aus seiner praktischen Erfahrung ein indischer Ingenieur in Deutschland. Auch ein spanischer Ingenieur in Deutschland sprach mit uns über interkulturellen Unterschiede. Lesen Sie auch, warum internationale Fachkräfte deutschen Unternehmen gut tun.
One thought to “SERIE: Typisch deutsch – Warum wir wissen sollten, wie wir im Job ticken”